Donnerstag, 31. Mai 2007

Ex oriente lux?



Auch als bekennender Nostalgiker kann und sollte man neuen technischen Entwicklungen stets aufgeschlossen gegenübertreten; das war schon immer meine Überzeugung. Auf der anderen Seite ist aber auch stets dort Vorsicht angezeigt, wo blinder, geradezu pseudoreligiöser Fortschrittsglaube dazu Anlaß geben soll, über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsene Traditionen und Lebensformen unhinterfragt abzuschaffen.

Man mag sich wundern über diese etwas allgemein gehaltene Einleitung, aber das konkrete Beispiel, das ich hier jetzt behandeln will, ist so eminent bedeutsam, daß es eine solche Grundsatzdiskussion durchaus rechtfertigt. Es geht um ein zentrales Kulturgut, es geht um ein uns alle täglich begleitendes Artefakt: Es geht um das Buch. Nicht ein spezielles Buch, sondern das Buch an sich.

Wie, wird der geneigte Leser sich jetzt fragen, kommt der auf sowas? Beim Stöbern auf der Internetpräsenz der Tagesschau fand ich folgende Meldung: "Japan: Boom bei E-Books und Handy-Romanen".

Daß man neuerdings vermehrt Texte (und auch andere Dinge - nur mit dem Essen, da hapert es noch) online "konsumiert", ist natürlich nichts Neues. Genausowenig wird uns überraschen, daß die Japaner diese neuen Möglichkeiten besonders intensiv nutzen. Geradezu beängstigend empfand ich aber folgende Aussage eines hierauf spezialisierten Verlegers, Herrn Suzuki:

"Auch in Japan hat man früher gesagt, dass die Leute nicht am Bildschirm lesen wollen. In Wirklichkeit hat das Papierbuch keine Zukunft."

Sollte das wirklich wahr sein? Wird das gute, alte Buch bald dem "E-Book", dem elektronischen Text, weichen?

In dieser Formulierung ist die Frage freilich etwas spekulativ. In die Zukunft schauen kann unter uns wohl niemand, auch nicht Herr Suzuki. Betrachtet man allerdings die letzten ca. eineinhalb Jahrzehnte der "Computerisierung" der Welt und extrapoliert davon ausgehend in die Zukunft, klingt die Ablösung des gedruckten Wortes durch das digitale gar nicht mehr so surreal.

Die Verfechter des Buchdrucks halten dem natürlich seit eh und je das Argument entgegen, lange Texte seien am Bildschirm mühselig zu lesen. Das sehe ich zwar selbst auch so, aber wie das Beispiel Japans zeigt, scheint das viele nicht mehr zu stören: Vielleicht ist es auch nur eine Frage der Gewöhnung? Ich weiß es nicht - ich weiß nur, daß die Entwicklung dieses Argument offenbar schon überrollt hat.

Und was sagen die E-Book-Optimisten? Ich nehme einmal Herrn Suzuki als prototypisches Beispiel: Der Vertrieb von Literatur über das Internet sei viel billiger als der Druck und der anschließende Transport sowie - nicht zu vergessen - die Lagerung derselben. Da sich das natürlich auf den Verkaufspreis niederschlage, diktiere das Gesetz des Marktes hier das Aussterben des Papierbuches.
Hinzu kommt, und dieses Argument füge ich selbst hinzu, daß elektronischer Text in vielerlei Hinsicht besser handhabbar ist als gedruckter. Er kann mit einem Computer durchsucht, kopiert, verschickt und verändert und auch sonst mit nach Format variierendem Aufwand als "Input" für Computerprogramme benutzt werden - hierzu allerdings später mehr.

Seien wir aber nicht so fatalistisch. Fragen wir nicht: "Wird das E-Book das Papierbuch ablösen?" Fragen wir stattdessen: "Wollen wir (eigentlich!), daß das das E-Book das Papierbuch ablöst?"
Denn letzten Endes sind wir es, durch die die Welt wird, was sie ist und die Zukunft, was sie sein wird, kein unbeeinflußbares, unkörperliches Schicksal, wie wir uns manchmal selbst einreden.

Mir persönlich ist die Vorstellung, Bücher grundsätzlich nur noch am Rechner lesen zu können, ein Graus. Sicher - die technischen Vorteile beim Bearbeiten und Durchforsten von Texten in elektronischer Form sind nicht von der Hand zu weisen. Hier müssen wir jedoch eins festhalten: Wir reden hier nicht nur von gemeinfreien Texten wie der Bibel. Wir reden von Material, das urheberrechtlich geschützt ist - und da geht natürlich der Spaß wieder los. Denn natürlich liefert der E-Book-Verlag des Herrn Suzuki uns keinen ganz normalen Klartext oder sonst ein Standardformat, natürlich erhalten wir stattdessen ein DRM-verseuchtes digitales Etwas, das wir dann nur an einem Computer mit speziell hierfür entwickelter Software lesen und natürlich keineswegs bearbeiten, nach Belieben kopieren und versenden können, wie es das Medium eigentlich erlaubt. Letzten Endes erwerbe ich also kein Buch - ich erwerbe eine "Nutzungslizenz" für einen Text.

Da man über Sinn und Unsinn des heutigen Copyrights ganze Bände schreiben kann und ich mich darüber auch gewiß noch gesondert auslassen werde, will ich an dieser Stelle nur knapp konstatieren: Es ist Blödsinn. Es ist verkehrte Welt. Diese ganzen Bestimmungen bzgl. der Vervielfältigung von Texten wurden aus dem einzigen Grund entwickelt, die Investitionen der Verlage in die sündhaft teuren Buchdruckmaschinen abzusichern - die aber jetzt gar nicht mehr anfallen.
Überhaupt: Ist die Argumentation Suzukis an dieser Stelle nicht ohnehin lückenhaft? Der Vertrieb digitaler Texte sei sehr günstig, behauptet er da: Ja schau an, tatsächlich, meint der Leser da doch, und wie hoch genau sind sie eigentlich? Null. Das kopieren eines digitalen Textes kostet nichts, das ist ja das schöne, darum geht es bei der Sache doch.

Nun müssen wir uns die Frage stellen: Welche Existenzberechtigung hat in einer Welt, in der das geschriebene Wort ohne merklichen Aufwand kopiert und verbreitet werden kann, noch der Verlag? Und mit welcher Begründung nimmt er noch Geld für die Dienstleistung, die gar keine mehr ist?

Hiermit haben wir die implizit gestellte, doch nicht ausgesprochene Frage "Cui bono?" auch schon mit beantwortet, denn hier liegt der Hase im Pfeffer: Was im Softwarebereich seit dem Aufstieg Microsofts Gang und Gebe ist, wollen interessierte Kreise nun offenbar auf die Literatur ausdehnen: Das Konzept, daß sogenanntes "geistiges Eigentum" über eine ominöse "Lizenzvereinbarung" an den Endkunden geliefert wird, die je nach Einzelfall die unglaublichste Gestalt annehmen kann.

Noch mag uns das nicht sonderlich beeindrucken. Sobald aber das Internet der einzige Zugang zu Literatur ist - und Literatur ist eben notwendig! - wird (würde? könnte?) das Ganze geradezu Orwellsche Dimensionen annehmen: Dann muß man nämlich einen Computer besitzen, der die entsprechende (proprietäre) Softwareausstattung besitzt, und diese Ausstattung muß dann natürlich irgendwie kontrolliert werden, damit der Nutzer auch ja keinen verbotenen Unsinn mit seinen Büchern anstellt, wie z.B., sie seinen Freunden zu schicken.

Aber verlassen wir einmal das leidige und, wie gesagt, hier ohnehin nur kurz anreißbare Thema "Copyright", denn es könnte sowieso schlimmer kommen: Stellen wir uns einmal vor, ein Buch würde verboten. Einfach so. Staatliche Willkür. Soll ja hin und wieder vorgekommen sein.
In der schönen neuen Welt des Herrn Suzuki braucht der Staat nur kurz beim Verlag anzurufen, und das Buch ist futsch - eine entsprechende Gesetzeslage wird hier freilich vorausgesetzt, aber wenn wir uns ansehen, welchen Widerstand heute sowohl im Copyright als auch im Datenschutz unsere gewählten Volksvertreter den Bemühungen der Lobbyisten entgegenbringen, dann können wir dieses Gedankenexperiment durchaus machen, ohne uns allzuweit aus dem Fenster zu lehnen. Und wer das Buch schon hat, der bekommt kurzerhand die Lizenz entzogen, das Buch wird automatisch gelöscht, und der Endkunde bekommt vielleicht großzügig die Gebühr rückerstattet, die er dafür bezahlt hat.

Das ist das Problem: Das E-Book beruht auf moderner Technologie, und Technologie kann in die falschen Hände geraten. Und selbst wenn wir davon ausgehen, daß sich die oben beschriebene Zukunftsvision als unzutreffend erweist, werden wir auf praktische Probleme stoßen, die aber dieselbe fundamentale Ursache haben: Zum Beispiel ist die Lebensdauer heutiger digitaler Medien ziemlich bescheiden. Nach wenigen Jahrzehnten hat die beste CD den Geist aufgegeben, magnetische Datenträger wie Festplatten sowieso. Erstaunt? Das weiß man schon lange, aber es fällt selten auf, weil es diese Medien eben noch nicht lange genug gibt!

Keines dieser Probleme kennt in dieser Form das Buch. Wenn ich es einmal besitze, kann es mir niemand mehr ohne Weiteres wegnehmen. Um es zu lesen, brauche ich keine zusätzliche Technologie. Ich kann es mir ins Regal stellen, wo es freilich Platz wegnimmt - aber gewisse Dinge im Leben brauchen nun einmal ihren Raum. Ich kann es jemandem verleihen oder schenken, ohne einen Dritten um Erlaubnis zu fragen. Und eine gewisse Verarbeitungsqualität und entsprechende Sorgfalt vorausgesetzt, kann es Jahrhunderte überdauern.

Das Buch ist da, es ist greifbar, es ist fühlbar - kurz: Es existiert, und zwar nicht nur abstrakt wie das E-Book. Das E-Book ist digitalisierte Information; es ist pneumatisch, ätherisch, flüchtig. Das Buch ist konkret. Es existiert in der physikalischen Welt, als Objekt, als Körper, wie der Mensch, denn der Mensch ist bei aller Geistigkeit und Geistlichkeit eben kein abstraktes, sondern ein ganz und gar physisches und sinnliches Wesen. Und auf diese natürliche Weise sinnlich, sensorisch erfahrbar ist ihm eben nur das Buch und kein noch so hochentwickelter Abklatsch davon.

Vielleicht ist der letzte Abschnitt etwas zu sehr ins Philosophische abgeglitten, aber wie ich eingangs bereits darlegte, hat das Thema nach meinem Dafürhalten eben eine solch tiefgründige Bedeutung, daß man es nur in dieser Sprache überhaupt adäquat darstellen kann.
Um es zu konkretisieren: Ich finde es z.B. toll, ja geradezu sensationell, daß die Bibel elektronisch verfügbar ist. Sie ist ein gemeinfreier Text und unterliegt keinen künstlichen wirtschaftlich motivierten Schranken, wie z.B. einem Kopierschutz. Im Internet ist sie in allen möglichen Sprachen lesbar. Deutsch, Griechisch, Hebräisch, Lateinisch, Französisch, Englisch, was auch immer, überall auf der Welt und jederzeit. Man kann sie durchsuchen, wenn man gerade den Kontext oder genauen Wortlaut eines Zitates erfahren will, man kann online nach einer Übersetzung suchen, die man für eine fremdsprachliche Diskussion benötigt, u.dgl.m.

Aber die Bibel im Regal ersetzt mir das nicht, und darum geht es hier.

Ein Dankeschön

Bevor ich mit meinem nächsten Artikel loslege, möchte ich mich erst einmal bedanken für die vielen positiven Rückmeldungen, die ich für mein Blog bislang bekommen habe, und die mich in der Überzeugung bestärkt haben, daß dieses Projekt eine gute Sache ist.

Für alle, die ob meines Artikels zum Fall Konstantinopels verwirrt waren: Ja, das Datum war falsch. Die Belagerung endete natürlich am 29. Mai 1453. Freundlicherweise hat Windthorst, von dem ich ja auch ursprünglich die Idee für den Artikel hatte, mich auf diesen Fehler hingewiesen. An dieser Stelle noch einmal vielen Dank.

Im Übrigen möchte ich alle meine (noch wenigen, aber wer weiß...?) Leser ermutigen, fleißig von der Kommentarfunktion Gebrauch zu machen.

Dienstag, 29. Mai 2007

Un très bref discours de la mani(e)



Bildquelle: Rheinische Post Online

Es ist eine absurde Eigenschaft der modernen (oder sagt man schon "postmodernen"?) Gesellschaft, daß um Begriffe, von denen eigentlich jeder nur eine sehr vage Vorstellung hat, grundsätzlich am leidenschaftlichsten gerungen wird. Betrachten wir einmal das Beispiel "Globalisierung": Jeder ist dafür, dagegen oder beides, und jeder meint, seinen Senf dazugeben zu müssen, aber fragt man jemanden, um was es überhaupt geht, erhält man mindestens so viele verschiedene Antworten wie Gesprächspartner.

Vor dem Hintergrund dieser Tatsache wirken Aufnahmen wie die obige noch skuriller und zugleich noch erschütternder: Ist es in Deutschland schon so weit gekommen, daß brennende Barrikaden, Pfefferspray und fliegende Steine eine politische Diskussion ersetzen? Antwort: Ja, und zwar schon lange, etwa seit 1968.

Gehen wir nun der allseits beliebten Frage "Warum?" nach, vielleicht noch erweitert um das der philosophischen deutschen Seele gerecht werdende epitheton ornans "eigentlich" - fragen wir also: "Warum eigentlich?"
Die vielbemühte "Verrohung der Gesellschaft" mag die grundsätzlich gestiegene Bereitschaft zum Skandieren hirnloser Parolen und zum begleitenden Einsatz von Wurfobjekten erklären, nicht aber die Frage, wieso gerade bei G8-/EU-/Asem-/etc.-Gipfeln sich besagte Bereitschaft so prominent manifestiert.

Eine Antwort ist natürlich dadurch gegeben, daß sich bei solchen Treffen Vertreter von Staaten treffen, noch dazu von reichen Staaten, und wo "reich" und "Staat" in solcher Harmonie zusammenkommen, da hat man natürlich sofort den Zorn der sogenannten Autonomen erregt, die in Massen herbeiströmen, um energisch und zur Not auch gewaltsam ihrem Unmut darüber Luft zu machen, daß sich da Leute treffen, mit denen sie nichts zu tun haben wollen.

Aber nein, auch das ist noch nicht alles: Es geht, wie wir ja bereits eingangs festgestellt haben, hier um die Globalisierung. Eigentlich ist der Begriff an sich schon ein bißchen unglücklich, stammt er doch vom lateinischen globus ab, was soviel wie "Kugel" oder "Ball" bedeutet. Wir sollen also gekugelt werden oder auch ballifiziert (balla-balla?), aber auch das hilft nicht wirklich weiter - nein, es geht hier natürlich um den Erdball (der eigentlich ein Ellipsoid ist, aber darüber wollen wir gnädig hinwegsehen).

Da sich über diese etymologische Betrachtung hinaus auch noch weitere Schwierigkeiten bei der Definition dieses Begriffes ergeben und das bei einem Politikum eher hinderlich ist, wollen wir hier einzelne Aspekte betrachten, die definitiv zu der Entwicklung, die gemeinhin als Globalisierung bezeichnet wird, gehören.

Zum einen wäre da die Entstehung und Begünstigung von Konzernen zu erwähnen, die über Ländergrenzen hinweg operieren und einige Länder mittlerweile in den ihnen zur Verfügung stehenden monetären Mitteln gar übertrumpfen. Zum anderen erhöht sich aber auch die Mobilität des Einzelnen, sowohl physisch als auch kommunikationstechnisch.

Letzterer Punkt ist wohl positiv hervorzuheben; ersterer, der wohl am meisten die Gemüter vor allem im sozialistischen Lager erregt, muß aber kritisch betrachtet werden.
Ich bin beileibe nicht Teil dessen, was man gemeinhin als "linkes Spektrum" bezeichnet (über Sinn und Unsinn solcher Zuordnungen möchte ich mich an anderer Stelle gesondert äußern). Aber wenn die Wirtschaft den Nationalstaaten buchstäblich über den Kopf bzw. über die Grenzen wächst, wird es eng. Ganz eng. So eng, daß Sozialisten und Konservative, Monarchisten und Republikaner, Patrioten und "Deutschland verrecke!"-T-Shirt-Träger eigentlich zusammenrücken müßten, um sich der dunklen Bedrohung entgegenzustellen.

Tun wir das? Nein. Und warum (eigentlich) nicht? Weil unsere Opposition zur Globalisierung bzw. zur genannten Ausprägung derselben völlig unterschiedliche weltanschauliche Hintergründe hat. Die einen wollen den Nationalstaat retten, die anderen sehen den Nationalstaat als Wurzel des ganzen Übels, und wieder andere verfolgen den Ansatz:

Phase 1: Hochhaus in die Luft jagen!
Phase 2: ???
Phase 3: Profit!,

aber das ist theoretisch irgendwie noch nicht ganz ausgereift, weswegen von der praktischen Umsetzung an dieser Stelle ausdrücklich abgeraten wird.

Und zu dieser ganzen Wurst jetzt noch mein Senf: Wenn Globalisierung heißt, daß die Mobilität des Menschen in der Welt in der oben beschriebenen Weise zunimmt, dann: Ja, bitte.
Wenn sie aber nichts anderes ist als das politisch korrekte Wort für "Amerikanisierung" (und das ist in den USA tatsächlich der Fall!), für die Ablösung des Vaterlandes durch den Mutterkonzern (ist das frauendfeindlich?), für die Nivellierung der historisch gewachsenen Sprachen, Kulturen, Traditionen und Lebensgewohnheiten unseres Planeten zu einem angelsächsisch-sprechenden Stars-and-Stripes-Einheitsbrei, dann: Nein.

Ohne "Danke".

Der Fall Konstantinopels



Heute vor 554 Jahren, am 29. Mai 1453, fiel Konstantinopel an die Türken unter Mehmed II.
Windthorst
hat dazu bereits einen Post geschrieben, der sich hauptsächlich mit dem letzten Kaiser des Oströmischen Reiches befaßt. Ich hingegen möchte an dieser Stelle eine Einordnung in den historischen Kontext versuchen, und welche Rolle dieses Ereignis für uns heute spielt.

Entgegen landläufiger Meinung ist das Römische Reich nicht im 5. Jahrhundert untergegangen. Der östliche, mehr griechisch als lateinisch geprägte Teil überlebte und schaffte es sogar kurzzeitig, einen Großteil der verlorenen Gebiete (v.a. Italien) zurückzuerobern. Mit der Kirchenspaltung von 1054 - die mehr politisch als theologisch motiviert war - war das Reich vom lateinisch-katholischen Rest Europas abgetrennt. Die islamische Expansion hatte ihm bereits zuvor viele wirtschaftlich wie auch kulturell bedeutende Gebiete, vor allem Ägypten, entrissen. Als die Muslime auch Palästina erobert hatten, wurde Rom hellhörig, und so nahmen die Kreuzzüge ihren Lauf. Ironischerweise war es einer dieser Kreuzzüge, in dessen Verlauf die westlichen Ritter Konstantinopel plünderten. Dies ist übrigens die Wurzel der Abneigung, die dem Katholizismus noch heute im orthodoxen Raum entgegenschlägt. Erst durch diese Plünderung nämlich sank Ostrom auf den Status einer Regionalmacht herab, bis es schließlich nicht mehr in der Lage war, seine Bollwerkfunktion für Europa einzunehmen. Erst hierdurch war es den Türken möglich, den Balkan zu erobern und schlußendlich bis vor die Tore Wiens vorzudringen.
Die Osmanen aber konsolidierten ihre neugewonnene Macht weise: Anstatt die oströmische Kultur vollständig zu zerschlagen, machten sie Konstantinopel zu ihrer neuen Hauptstadt und übernahmen einen Großteil des Beamtenapparates. Wäre nicht das Christentum hier dem Islam gewichen, könnte man fast von einer translatio imperii sprechen.
Was die osmanischen Sultane nicht getan hatten, vollbrachte die nach dem Ersten Weltkrieg ausgerufene, nationalistisch orientierte türkische Republik in wenigen Jahren: Der noch immer bedeutende Anteil griechisch-orthodoxer Bevölkerung in Konstantinopel wurde - wie auch die Griechen, die seit der frühen Antike an der Küste Kleinasiens gesiedelt hatten, Jahrtausende, bevor der erste Türke seinen Fuß auf das Gebiet der heutigen Türkei gesetzt hatte - kurzerhand vertrieben, und aus Konstantinopel wurde Istanbul.

Welche Rolle spielt das alles für uns heute?
Das Oströmische Reich (ich vermeide bewußt die Bezeichung "byzantinisch", weil sie anachronistisch ist) konservierte ein Jahrtausend lang unschätzbares Wissen aus der Antike, das im Westen verlorengegangen war. Die aus Konstantinopel vor den Türken flüchtenden Oströmer begeisterten die europäischen Intellektuellen für die Sprache und Kultur der alten Griechen, was einer der Auslöser der Renaissance war und damit das Ende des Mittelalters einleitete, weswegen das Jahr 1453 auch gern als Epochenmarke angegeben wird.
Auf der anderen Seite ist die Einnahme Konstantinopels auch einer der Hauptgründe, warum wir heute über den EU-Beitritt der Türkei diskutieren: Weil Konstantinopel ureuropäisches Gebiet ist und es merkwürdig anmutet, daß es nicht dazugehören soll.

Am 29. Mai 1453 fiel Konstantinopel - das von dort beherrschte Reich hatte in einzigartiger Weise das in sich vereint, was wir heute als Fundament Europas sehen: Die christliche Religion, die griechische Kultur und das römische Staatswesen. Wenn wir heute des Untergangs dieser uns fremden und doch merkwürdig vertrauten europäischen Teilzivilisation gedenken, dann geschieht das mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Wir betrauern den Verlust Ostroms in dem steten Bewußtsein, daß es in Europa weiterlebt, so wie z.B. auch in Deutschland Preußen weiterlebt.

Höher, schneller, weiter - Das moderne Kino und das "Matrix-Syndrom"

Trotz meiner häufigen Kritik an den überhand nehmenden angloamerikanischen Einflüssen in unserer Gesellschaft muß auch ich bekennen, daß ich die Produkte der US-Film-und-TV-Industrie dankend konsumiere.Hand aufs Herz: Nicht alles aus der Traumfabrik ist platt, nicht alles, was platt ist, ist auch gleich schlecht, und zuweilen blitzt sogar der Funke der Genialität aus dem Zelluloid, auch wenn ich mit guter Unterhaltung schon mehr oder weniger zufrieden bin.

Soviel zu US-Filmen allgemein, doch was soll der Titel dieses Posts damit zu tun haben? Nun, eigentlich beziehe ich mich hier auf einen ganz konkreten Film, nämlich Pirates of the Caribbean III oder auch Fluch der Karibik III (ich ziehe in diesem Falle den Originaltitel vor, weil die deutsche Übersetzung sehr ungeschickt ist).
Es scheint seit einiger Zeit ein ungeschriebenes Gesetz in der Filmindustrie zu geben, demzufolge sich Filmreihen grundsätzlich von einem Teil zum nächsten immer weiter zu einem Werk epischer Breite wie Der Herr der Ringe hochschaukeln müssen. Nun ist das bei letzterem auch durchaus passend; Beispiele wie die Matrix-Reihe zeigen aber, wie man mit diesem Konzept erfolgreich den ganzen Charme des ersten Teils nach und nach auf dem Altar der Computereffekte opfert.
Nicht ganz so schlimm ist es mit dem neuesten Abenteuer unserer karibischen Helden; ein paar Lacher sind drin, an einigen Stellen kommt vielleicht sogar genuine Spannung auf - aber letzten Endes setzt man auf ein fast dreistündiges Effektfeuerwerk, das nach wenigen Minuten den Zuschauer abstumpft.

Wenn aber Effekte nicht mehr dazu verwendet werden, eine Geschichte besser zu erzählen, sondern im Gegenteil die Geschichte nur noch als Plattform zur Präsentation der neuesten Computertechnik dient, dann kann das meines Erachtens dem Kino als Ganzem nicht gut tun. Hoffen wir auf eine Rückbesinnung auf cineastische Tugenden, auch wenn das Gesetz des Dollars das Gegenteil diktiert.

Unser neues Alphabet

Mitunter treibt der momentan in Mode befindliche Anglozentrismus recht seltsame Blüten, zum Beispiel hier bei Blogger.
Gehe ich in meinem Blog auf "Anpassen", so finde ich eine Option, die folgendes bewirkt:

"Fügt eine Schaltfläche auf der Symbolleiste des Post-Editors hinzu, mit der englische Schrift in Hindischrift umgewandelt wird."

Es fällt nichts auf? Dann bitte noch einmal lesen.
Immer noch nicht? Siehe oben.

Englische Schrift. Soso.

Zugegeben: Es gibt so etwas wie eine "englische Schrift", nämlich die "Copperplate", eine englische Schreibschrift; genauso gibt es auch eine "deutsche Schrift", das ist die Gesamtheit der gebrochenen Schriften, z.B. Fraktur, Kurrent und Sütterlin.

Aber irgendwie bezweifle ich, daß solche kalligraphischen Feinheiten hier gemeint sind, nein: Gemeint ist freilich das vom Englischen wie vom Deutschen und auch den meisten anderen indogermanischen Sprachen verwendete Schriftsystem, das man aus gutem Grunde gemeinhin das lateinische Alphabet nennt.

Doch in der "globalisierten" Welt braucht so etwas natürlich niemand mehr zu wissen; fragt sich nur, wann der letzte Schritt vollzogen wird und wir fortan das Deutsche in amerikanischen Buchstaben schreiben - falls wir unsere Sprache dann überhaupt noch benutzen dürfen.

Von Grünen, Russen und Neonazis

Es ist ja jetzt schon einige Tage her, aber dennoch möchte ich es hier kommentieren: Die Festnahme des Grünen-Abgeordneten Volker Becks in Moskau während der Teilnahme an einer untersagten Homosexuellen-Parade, bei der es wohl etwas rau zuging.

Wer mehr über die Hintergründe erfahren will, den verweise ich auf Google oder auf den Spiegel.

Schon ist in unserer Bana-... ähm... Bundesrepublik der Aufruhr groß: Beim G8-Gipfel solle Frau Kanzlerin Merkel doch gefälligst gegen so etwas bei Putin protestieren, und überhaupt, was fällt den Russen eigentlich ein, eine Schwulendemo zu verbieten?

Über den Verlauf der Festnahme und der Demonstration kann ich schwerlich etwas aussagen, da ich nicht anwesend war. Auch über das Verbot der Schwulendemo kann man diskutieren, was ich aber jetzt nicht tun werde, weil es nicht den Kern der Sache trifft; dieser nämlich ist, daß der gute Herr Beck in ein fremdes Land gereist ist mit der Absicht, an dieser Parade teilzunehmen im vollen Bewußtsein, daß diese aufgrund des enormen Krawallpotentials behördlich verboten worden war - und sich dann hinterher lautstark beschwert, daß er bei dem (wie gesagt zu erwartenden) Tumult etwas abkriegt und dann auch noch verhaftet wird.

Lieber Herr Beck: Es obliegt Ihnen als Mitglied des Bundestages nicht, in anderen Ländern Ihre Vorstellungen von Versammlungsfreiheit und sexueller Selbstverwirklichung unters Volk zu bringen.
Wer in ein anderes Land reist und dort vorsätzlich die Gesetze bricht, muß damit rechnen, daß er dann auch einmal ganze zwei Stunden in U-Haft verbringen darf.

Hiermit will ich nicht das gewaltsame Vorgehen der Gegendemonstranten rechtfertigen. Was ich sagen will ist das, was ich gesagt habe: Wer die Hand auf die Herdplatte legt, verbrennt sich.

Dann möchte ich noch ein Wort zur Berichterstattung verlieren, und dieses Wort heißt "Neonazis". Genaugenommen sind es zwei Wörter, nämlich "mutmaßliche Neonazis" - dieser Begriff taucht in den Medien in Zusammenhang mit diesem Vorfall bzw. mit den involvierten gewaltsamen Gegendemonstranten auf, so z.B. auch in oben verlinktem Spiegel-Artikel.
Denken wir einmal scharf nach: Ist es plausibel, daß es in Rußland, das zig Millionen Opfer im Kampf gegen das Dritte Reich zu beklagen hat und noch heute stolze Militärparaden zur Feier der deutschen Kapitulation 1945 auffahren läßt, eine nennenswerte Neonazi-Szene gibt? Eine, die über die Nennenswertigkeit hinaus sogar imstande ist, eine großangelegte Gegendemonstration zu einer Homosexuellen-Parade zu organisieren?

Irgendwie nicht!

Aber überraschen tut es mich auch nicht. Der Begriff "Neonazi" wird heutzutage in einer derart inflationären Weise benutzt, daß niemand mehr so recht weiß, was er eigentlich bezeichnet - es aber zu wissen glaubt. Dabei ist "Nationalsozialist" und dementsprechend auch "Neo-Nationalsozialist" ein relativ scharf definierter Begriff für den Anhänger einer spezifischen Weltanschauung. Diese Weltanschauung ist zwar selbst ein wenig ungenau umgrenzt, weil sie völlig blödsinnig ist und sich im Wesentlichen aus anderen das zusammenklaut, was ihr gerade paßt, aber es bleibt dennoch festzustellen, daß selbst in der rechtsextremen Szene Deutschlands nur wenige tatsächlich unter diese Definition fallen dürften. Und in Rußland dürfte die Zahl gegen Null konvergieren.

Wer also auch immer diese Gegendemonstration organisiert hat - seien es nun Rechtsextreme, Rechtsradikale, gewaltbereite Nationalisten oder sonstwelche Leute - Neonazis waren es mit ziemlicher Sicherheit nicht.

Montag, 28. Mai 2007

Fiat lux! Über die Geburt eines Blogs und das Bloggen an sich - und über mich.

Ich bin ein Mensch, der viel, gern, und auch gern viel nachdenkt - über alles, was ihm gerade in den Sinn kommt - und die Ergebnisse seiner geistigen Arbeit auch seinen Mitmenschen mitzuteilen beliebt, mündlich wie auch in Schriftform.

Einer dieser Grübeleien entsprang eines Tages - nämlich heute - der Entschluß, daß einer wie ich sich doch endlich auch der kommunikativen Segnungen der Technik bedienen müßte, die es jedermann ermöglichen, die Welt mit seinen Gedanken zu beglücken.

Da stellte sich mir natürlich zunächst die allgemeine Frage: Ist das denn nicht gefährlich, wenn jeder auf einmal zu allem etwas schreiben und jeder es lesen kann? Da könnte man ja den letzten Unsinn unters Volk bringen!
Ein Blick in die professionelle Medienlandschaft, das realexistierende Paradies der intellektuellen Elite Deutschlands, hat mich schnell davon überzeugt, daß der in dieser Hinsicht maximal anrichtbare Schaden vernachlässigbar ausfällt.

Doch dem Leser wird vielleicht eine ganz andere Frage auf der Zunge liegen: Paßt das überhaupt zusammen, ein Nostalgiker, wohlgemerkt ein bekennender solcher, als Blogger?

Kurze Antwort: Ja.
Lange Antwort: Nein.
Längere Antwort: Eigentlich nicht.
Noch längere Antwort: Eigentlich nicht... oder doch?

Noch viel, viel längere Antwort:
Wie jeder Mensch, der sich um die Welt ein bißchen Gedanken gemacht hat, stecke ich voller Widersprüche; vielleicht liegt das daran, daß die Welt an sich voller Widersprüche steckt und sich die kontemplative Beschäftigung mit ihr zwangsläufig auf einen abfärbt.
So bin ich der Nostalgiker, der dem Glanz des Vergangenen nachtrauert, ohne indes die Hoffnung einer Renaissance gänzlich verloren zu haben. So bin ich ein Physikstudent (pardon: -studierender), der morgens um acht Uhr in der Uni antanzt, um Griechisch zu lernen. So bin ich gleichzeitig computerbegeisterter Linux-Geek und passionierter Fortschrittsskeptiker.

Dieses Journal ist ein Versuch. Die Windmühlenflügel unserer Welt, die der Zeitgeist vor sich her bläst, scheinen uns oft so unaufhaltsam, daß der Blick auf sie uns in Hypnose versetzt; eine geistige Trägheit macht sich breit in der Welt, die jeden widrigen Gedanken im Keim erstickt und wir sehen einen neuen Kosmos vor uns Gestalt annehmen, dessen Natur wir nur vage erahnen können, an dem die meisten aber jede Möglichkeit der konstruktiven Anteilnahme, ja gar jede Form der Kritik, längst aufgegeben haben. So wird der Mensch zum Sklaven einer Zeit, die hochtrabend seine Befreiung verkündet.

Natürlich ist dies nicht in dem Sinne zu verstehen, daß sich dieses Blog nur mit solch existenziellen Fragen der Menschheit befassen oder gar Patentrezepte zu ihrer Beantwortung bereithalten wird: Ich werde mich auch zu trivialeren Dingen äußern und letzten Endes obliegt es dem Leser, seinen eigenen kleinen Teil der Wahrheit für sich zu entdecken. Vielleicht können wir die Teile dann irgendwann zusammensetzen und sind alle schlauer geworden.

Ich schließe mich einem Aphorismus von Nicolás Gómez Dávila an:

"Meinesgleichen sind nicht die, die meine Schlußfolgerungen akzeptieren, sondern die, die meinen Widerwillen teilen."