Donnerstag, 31. Mai 2007

Ex oriente lux?



Auch als bekennender Nostalgiker kann und sollte man neuen technischen Entwicklungen stets aufgeschlossen gegenübertreten; das war schon immer meine Überzeugung. Auf der anderen Seite ist aber auch stets dort Vorsicht angezeigt, wo blinder, geradezu pseudoreligiöser Fortschrittsglaube dazu Anlaß geben soll, über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsene Traditionen und Lebensformen unhinterfragt abzuschaffen.

Man mag sich wundern über diese etwas allgemein gehaltene Einleitung, aber das konkrete Beispiel, das ich hier jetzt behandeln will, ist so eminent bedeutsam, daß es eine solche Grundsatzdiskussion durchaus rechtfertigt. Es geht um ein zentrales Kulturgut, es geht um ein uns alle täglich begleitendes Artefakt: Es geht um das Buch. Nicht ein spezielles Buch, sondern das Buch an sich.

Wie, wird der geneigte Leser sich jetzt fragen, kommt der auf sowas? Beim Stöbern auf der Internetpräsenz der Tagesschau fand ich folgende Meldung: "Japan: Boom bei E-Books und Handy-Romanen".

Daß man neuerdings vermehrt Texte (und auch andere Dinge - nur mit dem Essen, da hapert es noch) online "konsumiert", ist natürlich nichts Neues. Genausowenig wird uns überraschen, daß die Japaner diese neuen Möglichkeiten besonders intensiv nutzen. Geradezu beängstigend empfand ich aber folgende Aussage eines hierauf spezialisierten Verlegers, Herrn Suzuki:

"Auch in Japan hat man früher gesagt, dass die Leute nicht am Bildschirm lesen wollen. In Wirklichkeit hat das Papierbuch keine Zukunft."

Sollte das wirklich wahr sein? Wird das gute, alte Buch bald dem "E-Book", dem elektronischen Text, weichen?

In dieser Formulierung ist die Frage freilich etwas spekulativ. In die Zukunft schauen kann unter uns wohl niemand, auch nicht Herr Suzuki. Betrachtet man allerdings die letzten ca. eineinhalb Jahrzehnte der "Computerisierung" der Welt und extrapoliert davon ausgehend in die Zukunft, klingt die Ablösung des gedruckten Wortes durch das digitale gar nicht mehr so surreal.

Die Verfechter des Buchdrucks halten dem natürlich seit eh und je das Argument entgegen, lange Texte seien am Bildschirm mühselig zu lesen. Das sehe ich zwar selbst auch so, aber wie das Beispiel Japans zeigt, scheint das viele nicht mehr zu stören: Vielleicht ist es auch nur eine Frage der Gewöhnung? Ich weiß es nicht - ich weiß nur, daß die Entwicklung dieses Argument offenbar schon überrollt hat.

Und was sagen die E-Book-Optimisten? Ich nehme einmal Herrn Suzuki als prototypisches Beispiel: Der Vertrieb von Literatur über das Internet sei viel billiger als der Druck und der anschließende Transport sowie - nicht zu vergessen - die Lagerung derselben. Da sich das natürlich auf den Verkaufspreis niederschlage, diktiere das Gesetz des Marktes hier das Aussterben des Papierbuches.
Hinzu kommt, und dieses Argument füge ich selbst hinzu, daß elektronischer Text in vielerlei Hinsicht besser handhabbar ist als gedruckter. Er kann mit einem Computer durchsucht, kopiert, verschickt und verändert und auch sonst mit nach Format variierendem Aufwand als "Input" für Computerprogramme benutzt werden - hierzu allerdings später mehr.

Seien wir aber nicht so fatalistisch. Fragen wir nicht: "Wird das E-Book das Papierbuch ablösen?" Fragen wir stattdessen: "Wollen wir (eigentlich!), daß das das E-Book das Papierbuch ablöst?"
Denn letzten Endes sind wir es, durch die die Welt wird, was sie ist und die Zukunft, was sie sein wird, kein unbeeinflußbares, unkörperliches Schicksal, wie wir uns manchmal selbst einreden.

Mir persönlich ist die Vorstellung, Bücher grundsätzlich nur noch am Rechner lesen zu können, ein Graus. Sicher - die technischen Vorteile beim Bearbeiten und Durchforsten von Texten in elektronischer Form sind nicht von der Hand zu weisen. Hier müssen wir jedoch eins festhalten: Wir reden hier nicht nur von gemeinfreien Texten wie der Bibel. Wir reden von Material, das urheberrechtlich geschützt ist - und da geht natürlich der Spaß wieder los. Denn natürlich liefert der E-Book-Verlag des Herrn Suzuki uns keinen ganz normalen Klartext oder sonst ein Standardformat, natürlich erhalten wir stattdessen ein DRM-verseuchtes digitales Etwas, das wir dann nur an einem Computer mit speziell hierfür entwickelter Software lesen und natürlich keineswegs bearbeiten, nach Belieben kopieren und versenden können, wie es das Medium eigentlich erlaubt. Letzten Endes erwerbe ich also kein Buch - ich erwerbe eine "Nutzungslizenz" für einen Text.

Da man über Sinn und Unsinn des heutigen Copyrights ganze Bände schreiben kann und ich mich darüber auch gewiß noch gesondert auslassen werde, will ich an dieser Stelle nur knapp konstatieren: Es ist Blödsinn. Es ist verkehrte Welt. Diese ganzen Bestimmungen bzgl. der Vervielfältigung von Texten wurden aus dem einzigen Grund entwickelt, die Investitionen der Verlage in die sündhaft teuren Buchdruckmaschinen abzusichern - die aber jetzt gar nicht mehr anfallen.
Überhaupt: Ist die Argumentation Suzukis an dieser Stelle nicht ohnehin lückenhaft? Der Vertrieb digitaler Texte sei sehr günstig, behauptet er da: Ja schau an, tatsächlich, meint der Leser da doch, und wie hoch genau sind sie eigentlich? Null. Das kopieren eines digitalen Textes kostet nichts, das ist ja das schöne, darum geht es bei der Sache doch.

Nun müssen wir uns die Frage stellen: Welche Existenzberechtigung hat in einer Welt, in der das geschriebene Wort ohne merklichen Aufwand kopiert und verbreitet werden kann, noch der Verlag? Und mit welcher Begründung nimmt er noch Geld für die Dienstleistung, die gar keine mehr ist?

Hiermit haben wir die implizit gestellte, doch nicht ausgesprochene Frage "Cui bono?" auch schon mit beantwortet, denn hier liegt der Hase im Pfeffer: Was im Softwarebereich seit dem Aufstieg Microsofts Gang und Gebe ist, wollen interessierte Kreise nun offenbar auf die Literatur ausdehnen: Das Konzept, daß sogenanntes "geistiges Eigentum" über eine ominöse "Lizenzvereinbarung" an den Endkunden geliefert wird, die je nach Einzelfall die unglaublichste Gestalt annehmen kann.

Noch mag uns das nicht sonderlich beeindrucken. Sobald aber das Internet der einzige Zugang zu Literatur ist - und Literatur ist eben notwendig! - wird (würde? könnte?) das Ganze geradezu Orwellsche Dimensionen annehmen: Dann muß man nämlich einen Computer besitzen, der die entsprechende (proprietäre) Softwareausstattung besitzt, und diese Ausstattung muß dann natürlich irgendwie kontrolliert werden, damit der Nutzer auch ja keinen verbotenen Unsinn mit seinen Büchern anstellt, wie z.B., sie seinen Freunden zu schicken.

Aber verlassen wir einmal das leidige und, wie gesagt, hier ohnehin nur kurz anreißbare Thema "Copyright", denn es könnte sowieso schlimmer kommen: Stellen wir uns einmal vor, ein Buch würde verboten. Einfach so. Staatliche Willkür. Soll ja hin und wieder vorgekommen sein.
In der schönen neuen Welt des Herrn Suzuki braucht der Staat nur kurz beim Verlag anzurufen, und das Buch ist futsch - eine entsprechende Gesetzeslage wird hier freilich vorausgesetzt, aber wenn wir uns ansehen, welchen Widerstand heute sowohl im Copyright als auch im Datenschutz unsere gewählten Volksvertreter den Bemühungen der Lobbyisten entgegenbringen, dann können wir dieses Gedankenexperiment durchaus machen, ohne uns allzuweit aus dem Fenster zu lehnen. Und wer das Buch schon hat, der bekommt kurzerhand die Lizenz entzogen, das Buch wird automatisch gelöscht, und der Endkunde bekommt vielleicht großzügig die Gebühr rückerstattet, die er dafür bezahlt hat.

Das ist das Problem: Das E-Book beruht auf moderner Technologie, und Technologie kann in die falschen Hände geraten. Und selbst wenn wir davon ausgehen, daß sich die oben beschriebene Zukunftsvision als unzutreffend erweist, werden wir auf praktische Probleme stoßen, die aber dieselbe fundamentale Ursache haben: Zum Beispiel ist die Lebensdauer heutiger digitaler Medien ziemlich bescheiden. Nach wenigen Jahrzehnten hat die beste CD den Geist aufgegeben, magnetische Datenträger wie Festplatten sowieso. Erstaunt? Das weiß man schon lange, aber es fällt selten auf, weil es diese Medien eben noch nicht lange genug gibt!

Keines dieser Probleme kennt in dieser Form das Buch. Wenn ich es einmal besitze, kann es mir niemand mehr ohne Weiteres wegnehmen. Um es zu lesen, brauche ich keine zusätzliche Technologie. Ich kann es mir ins Regal stellen, wo es freilich Platz wegnimmt - aber gewisse Dinge im Leben brauchen nun einmal ihren Raum. Ich kann es jemandem verleihen oder schenken, ohne einen Dritten um Erlaubnis zu fragen. Und eine gewisse Verarbeitungsqualität und entsprechende Sorgfalt vorausgesetzt, kann es Jahrhunderte überdauern.

Das Buch ist da, es ist greifbar, es ist fühlbar - kurz: Es existiert, und zwar nicht nur abstrakt wie das E-Book. Das E-Book ist digitalisierte Information; es ist pneumatisch, ätherisch, flüchtig. Das Buch ist konkret. Es existiert in der physikalischen Welt, als Objekt, als Körper, wie der Mensch, denn der Mensch ist bei aller Geistigkeit und Geistlichkeit eben kein abstraktes, sondern ein ganz und gar physisches und sinnliches Wesen. Und auf diese natürliche Weise sinnlich, sensorisch erfahrbar ist ihm eben nur das Buch und kein noch so hochentwickelter Abklatsch davon.

Vielleicht ist der letzte Abschnitt etwas zu sehr ins Philosophische abgeglitten, aber wie ich eingangs bereits darlegte, hat das Thema nach meinem Dafürhalten eben eine solch tiefgründige Bedeutung, daß man es nur in dieser Sprache überhaupt adäquat darstellen kann.
Um es zu konkretisieren: Ich finde es z.B. toll, ja geradezu sensationell, daß die Bibel elektronisch verfügbar ist. Sie ist ein gemeinfreier Text und unterliegt keinen künstlichen wirtschaftlich motivierten Schranken, wie z.B. einem Kopierschutz. Im Internet ist sie in allen möglichen Sprachen lesbar. Deutsch, Griechisch, Hebräisch, Lateinisch, Französisch, Englisch, was auch immer, überall auf der Welt und jederzeit. Man kann sie durchsuchen, wenn man gerade den Kontext oder genauen Wortlaut eines Zitates erfahren will, man kann online nach einer Übersetzung suchen, die man für eine fremdsprachliche Diskussion benötigt, u.dgl.m.

Aber die Bibel im Regal ersetzt mir das nicht, und darum geht es hier.

1 Kommentar:

Ludwig Windthorst hat gesagt…

Danke für diesen Kommentar zur "Ontologie der E-Books" ;-)

Ich hatte mal angefangen Perry Rhodan als E-Book zu lesen, aber es ist wirklich sehr mühsam, selbst wenn mit TFT statt mit Röhre. Für das wissenschaftliche Arbeiten bevorzuge ich allerdings die elektronische Variante. Man kann leichter markieren, man kann Lesezeichen setzen, durchsuchen, etc.